Der Diskurs des Limmatquais

Artikel in der NZZ, 4.7.2015, von Katja Baigger

Der Diskurs des Limmatquais

«Annemarie» ist mehr als ein Monolog. Das Stück ist das Destillat eines mehrmonatigen Projekts des Konzeptkünstlers San Keller und der Autorin Renata Burckhardt. Die One-Woman-Show verblüfft.

Eine One-Woman-Show im Cabaret Voltaire? Man könnte abwinken, an diesem heissen Sommerabend. Gut, hat man das nicht getan. «Annemarie» ist erfrischend vielstimmig wie vielschichtig und mehr als die am Mittwoch einmalig aufgeführte szenische Einrichtung. Sie ist das Destillat einer sechsunddreissigfachen Spaziergangs-Performance. Und sie ist eine Hommage an die 2012 verstorbene Annemarie Burckhardt, die mit ihrem Mann, dem Raumplanungs-Theoretiker Lucius Burckhardt, die Promenadologie (Spaziergangswissenschaft) begründete.

Mit der einstündigen Miniatur rücken der Konzeptkünstler San Keller und die Autorin Renata Burckhardt (sie ist mit dem gleichnamigen Ehepaar weit draussen verwandt) die Frau des Flanerie-Wissenschafters in den Vordergrund. Damit zeigen sie die andere Seite des Lucius Burckhardt gewidmeten Pavillons der Architektur-Biennale 2014 in Venedig. Aus dem Off erklingt eine eigentümlich heisere Stimme. Sie erzählt von der Kindheit der Protagonistin Annemarie im Erzgebirge, von der Flucht aus der DDR in die Schweiz.

Abermals ertönt dieselbe Stimme, nun gehört sie der Schauspielerin Margot Gödrös, die Annemaries Lebensbericht vorliest. Ihre Live-Stimme und ihre auf dem Tonband konservierte treten in einen Dialog. Das Spannende an «Annemarie» ist, dass in der erzählten Biografie gewieft Kohärenz hergestellt wird, wo gar keine existiert. Die Geschichte wirkt so, als wäre es jene einer einzigen Person. Dem ist nicht so. Keller – in der Funktion als Performer – startete einen Aufruf: «Heissen Sie Anne, so sind Sie zu einem Spaziergang in Richtung Bellevue eingeladen. Heissen Sie Marie, so sind Sie zu einem Spaziergang in Richtung Central eingeladen.»

Daraufhin traf er fünfunddreissig Annes und Maries sowie einen Mann. Auch eine Annegret durfte mitmachen. Sie ging als «Anne» durch, wie eine Frau im Publikum verrät. Mit ihr und allen anderen ist Keller in der Zuhörer-Rolle den Limmatquai entlangflaniert. Die Spaziergängerinnen haben ihm Episoden aus ihren Leben erzählt. Keller berichtete Renata Burckhardt vom Gehörten. Sie verwebte die Protokolle zu einem schillernden Monolog. Dieser verschränkt Geschichte(n) und Diskurse, lässt zudem Frauenbilder und -rollen erahnen. Das macht ihn verblüffend lebendig.